Melden

PraxisInfo: #Chemnitz - Rechtsextreme Onlinemobilisierung

Hasskampagne unter #Chemnitz gegen Geflüchtete und Demokratie

Rechtsextreme instrumentalisieren Gewaltverbrechen, die – vermeintlich oder tatsächlich – von Geflüchteten bzw. Migranten begangen werden, um an öffentliche Diskurse anzuknüpfen. Dabei zielen sie vor allem auf Emotionen. Sie heizen gezielt die Stimmung an und können mit ihren rechtsextremen Botschaften so verstärkt Anschluss finden. Nicht selten bedienen sie sich hier auch gezielter Desinformationen. Im Kontext der Geschehnisse in Chemnitz konnte jugendschutz.net so erneut eine rasante Verbreitung von "Fake News" beobachten, die besonders für Jugendliche ein hohes Risiko darstellen. Mit erfundenen Statistiken, z.B. zur Anzahl von Vergewaltigungen durch Migranten in Sachsen, oder frei erfundenen Hintergründen zum Tathergang, verfolgten Rechtsextreme ihre politische Agenda und die Strategie, unbedarfte Zielgruppen zu indoktrinieren.

Der Fall in Chemnitz soll aus der Sicht der Rechtsextremen als Beweis für die vermeintliche Gewalttätigkeit von Geflüchteten dienen. In der Propaganda wird so das konstruierte Katastrophenszenario unterfüttern. Demnach seien Deutsche durch den Zuzug von Geflüchteten und Migranten existenziell bedroht. Regierungsverantwortlichen, staatlichen Institutionen und der Presse wird vorgeworfen, nicht ausreichend für Schutz zu sorgen, Gewalt durch Migranten zu bagatellisieren und für Gewalttaten wie in Chemnitz mitverantwortlich zu sein. Dies hat zum Ziel, Misstrauen gegen die demokratische Gesellschaft und das "politische System" als Ganzes zu befördern.

Mit Videos und Musik erreichen Rechtsextreme junge Menschen

Besonders rechtsextreme Videos, die über YouTube verbreitet werden, erzielen hohe Reichweiten. In der JIM-Studie 2017 wird YouTube von Jugendlichen mit weitem Abstand als das beliebteste Webangebot benannt. Dieses Nutzungsverhalten erhöht noch das Risiko, dass junge Userinnen und User auch mit der Vielzahl an rechtsextremen Videos in Kontakt kommen.

Ein Video des auch bei jungen Menschen beliebten Szene-Rappers "Chris Ares" konnte innerhalb von zwei Wochen über 500.000 Aufrufe erzielen. In einem Videostatement gibt er u.a. seine Deutung der Geschehnisse wieder, gespickt mit Falschmeldungen über den Fall. Darüber hinaus spricht er von täglichen Morden und Vergewaltigungen durch Migranten und einem "Rassismus gegen Deutsche". Mit Begriffen wie "bestialisch", "massakriert" oder "aufgeschlitzt" soll der emotionalisierende Effekt noch verstärkt werden.

Auch andere rechtsextreme Video-Blogger griffen in ihren regelmäßig erscheinenden Videoformaten, kurz Vlogs, Chemnitz als Thema auf, darunter auch Martin Sellner, der Kopf der "Identitären Bewegung" im deutschsprachigen Raum. Er veröffentlichte innerhalb einer knappen Woche ganze fünf Videos zum Thema, mit hunderttausenden Aufrufen und trug so massiv zur rechtsextremen Umdeutung der Vorfälle in Chemnitz bei. Der jugendaffine und reichweitenstarke Vlog "Laut Gedacht" sprach in seiner Ausgabe zu Chemnitz bspw. vom Getöteten als "Multi-Kulti-Toten" und einem von "zahlreichen Opfern des multikulturellen Gesellschaftsexperiments".

Daneben veröffentlichte der identitäre Rapper "Komplott" über YouTube ein Musikvideo mit dem Titel "Zweitausendfünfzehn", das "Öl ins Feuer von Chemnitz" gießen soll. In kurzer Zeit wurde das Video von über 40.000 Userinnen und User aufgerufen. Hierin bedient auch er ein weit verbreitetes, rechtsextremes Narrativ: Seit dem verstärkten Zuzug von Geflüchteten 2015 müssten alle Deutschen in Angst vor "täglicher Gewalt", "Terror und Vergewaltigungen" leben. Die "weiße Welt" stehe in einem "Vernichtungskampf", der "Widerstand" notwendig mache.

Insgesamt finden sich auf YouTube viele rechtsextreme Videos zu #Chemnitz, viele verstoßen dabei nicht gegen Jugendschutzbestimmungen. Durch die Masse an Inhalten wird jedoch suggeriert, dass es sich bei der rechtsextremen Deutung um eine Mehrheitsposition handeln würde. So finden sich alleine auf YouTube mittlerweile hunderte rechtsextreme Videos zu Chemnitz. Rechtsextreme knüpfen dabei mit ihren Formaten häufig an die Sehgewohnheiten und Lebenswelten junger Menschen an.

Netz – Straße – Netz: Entgrenzungen rechtsextremer Propaganda

Es liegt nahe, dass die weite Verbreitung von emotionalisierenden "Fake News" im Netz auch zur Mobilisierung beigetragen hat. Dazu wurden sie häufig mit dem Aufruf verknüpft, "Widerstand" zu leisten. So fanden in Chemnitz mehrfach große Demonstrationen statt, an denen sich auch eine Vielzahl rechtsextremer Akteure beteiligte und die online organisiert und beworben wurden. Im Nachgang der Demonstrationen wiederum waren Rechtsextreme im Netz bemüht, Geschehnisse wie Gewalt, rechtsextreme Sprechchöre und Hitlergrüße zu bagatellisieren und umzudeuten. Hierfür streuten Rechtsextreme erneut verschiedene "Fake News", u.a. von angeblich "linken Provokateuren", bezahlten Schauspielern oder gesteuerten Medienvertretern, welche die "Trauermärsche" in Verruf bringen sollten.

Rechtsextremen gelang es so, eine Sphäre der Unsicherheit zu erzeugen, in der belegbare Fakten ihr Gewicht verloren und ihre eigenen Narrative im und aus dem Netz an Bedeutung gewannen. Mit dieser Strategie konnten rechtsextreme Akteure ihre Erzählungen zu Chemnitz auch über das Netz hinaus in die öffentliche Debatte einspeisen.

Besonders junge Menschen sind hier dem Risiko ausgesetzt, die gezielte Verwischung der Grenzen von belegbaren Fakten und rechtsextremen Narra-tiven nicht angemessen bewältigen zu können. Hierzu bedarf es eines kompetenten Umgangs mit Medien sowie der Fähigkeit, Aussagen und Quellen eigenständig zu überprüfen, die selbst erfahreneren Mediennutzerinnen und -nutzern häufig fehlt.

Fakten statt Fake: Rechtsextreme Strategien durchkreuzen, junge Menschen stärken

Die rechtsextreme Propagandastrategie im Fall Chemnitz ist nicht neu. Rechtsextreme versuchten auch in Bezug auf andere, ähnliche Vorfälle sowohl mit der massenhaften Verbreitung von Desinformationen als auch mit emotionaler Ansprache, die Deutungshoheit über den öffentlichen Diskurs zu gewinnen. Gerade junge Userinnen und User sind hier eine der Zielgruppen, die mit teils auf sie zugeschnittenen Formaten über Vlogs und Musikvideos angesprochen werden sollen.

Wenngleich die Videos auf YouTube selbst meist keine Verstöße gegen Jugendschutzbestimmungen beinhalten, so zeigen viele Kommentare, dass die rechtsextreme Strategie, die Debatte anzuheizen und junge Userinnen und Usern zu erreichen, aufgeht. So ist das Risiko hoch, auf Hasskommentare zu stoßen, die auch Verstöße wie Volksverhetzungen und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen beinhalteten. Diese wurden durch jugendschutz.net an den Plattformbetreiber gemeldet.

Rechtsextreme Akteure werden auch weiterhin die Strategie verfolgen, Gewalttaten, die von Geflüch-teten oder Migranten ausgehen, für ihre rassistische Propaganda zu vereinnahmen und mit "Fake News" den öffentlichen Diskurs noch stärker zu emotionalisieren. Umso wichtiger ist es, Kinder und Jugendliche zu befähigen, kritisch mit Medieninhalten umzugehen sowie Manipulationen und Falschmeldungen zu erkennen. Hilfe zum Umgang mit "Fake News" bieten z.B. das Faltblatt "Achtung Hinterhalt!".