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Report: Antiziganismus online

Antiziganismus online: Allgegenwärtiger Hass

Auch wenn sich die Erscheinungsformen rechtsextremer Agitation vor allem auf schnelllebigen Social-Media-Plattformen stets wandeln, so weisen sie doch noch immer "klassische" Feindbilder auf. Es verwundert daher nicht, dass sich im Netz auch eine Vielzahl solcher Inhalte finden, die zum einen Hass gegen Sinti und Roma ausdrücken oder gezielt befeuern und zum anderen antiziganistische Stereo-type und Vorurteilsstrukturen reproduzieren. Der Begriff "Antiziganismus" bezeichnet dabei vorgefertigte Vorstellungen, Konstruktionen und Phantasien von Personen oder Gruppen, die völlig unabhängig vom Wahrheitsgehalt auf Sinti und Roma und andere Betroffene projiziert werden. Antiziganismus ist eine historisch und in seiner Sinnstruktur spezifische Form von Rassismus, die zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt führt.

Recherchen von jugendschutz.net und Erfahrungen der Kooperationspartner zeigen, dass Antiziganismus im Netz dauerhaft präsent ist, insbesondere aber in Bezug auf anschlussfähige gesellschaftspolitische Debatten und Ereignisse eine große Reichweite erzielen kann. So werden Berichte über Kriminalität und Normverletzungen genutzt, um Sinti und Roma zu verunglimpfen. Berichte über Armut werden im Rahmen rassistischer Kampagnen eingebunden, sodass Sinti und Roma als "dreckig" und "verwahrlost" diffamiert werden. Tendenziöse Medieninhalte und Artikel über Roma im europäischen Ausland werden aufgegriffen, um diese als "minderwertig" zu konstruieren und Hass zu schüren. Häufig werden dabei auch manipulierte Bilder und "Fake News" verbreitet. Die emotionale Ansprache und die bisweilen subtile Manipulation macht es insbesondere jungen Userinnen und User schwer, die Berichte als Hasspropaganda zu entlarven.

Stereotypen und Codes: Sprachliche Formen des Antiziganismus

Antiziganistische Hassrede äußert sich in unterschiedlichen Formen. Dabei ist zu beobachten, dass Begriffe sich wandeln oder Codes und Chiffren wie etwa "Rotationseuropäer" oder "Kinderdiebe" genutzt werden, welche antiziganistische Stereotype bedienen und eindeutige Assoziationen bei der Zielgruppe wecken sollen. Auch zunächst unverfängliche Bezeichnungen wie "Bulgaren" oder "Rumänen" werden häufig in antiziganistischen Kontexten genutzt, sodass sie bisweilen als Synonyme für Roma erscheinen. Deutlich wird dies in Kommentaren zu solchen Webinhalten: Unverhohlen wird Hass geschürt und zu Gewalt gegen Roma aufgerufen. So bergen selbst unverfängliche Begriffe das Risiko, auf antiziganistische Inhalte zu stoßen.

Insgesamt zeigte sich bei der aktuellen Schwerpunktrecherche, dass antiziganistische Vorurteile und Stereotype auch im Netz in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und in unterschiedlicher sprachlicher Ausprägung auftauchen. Der rassistisch geprägte Begriff „Zigeuner“ wird oftmals völlig ohne Bezug zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe als Synonym für vermeintliche Diebe, "Schmarotzer", Hausbesetzer, Umherziehende o.Ä. verwendet und insbesondere von jungen Menschen auch als allgemeines Schimpfwort genutzt. 

Wesentlich seltener, aber dennoch auch im Netz präsent sind romantisierende Zuschreibungen. Damit werden althergebrachte antiziganistische Vorurteile gegenüber Sinti und Roma transportiert. Vermeintlich positive Attribute wie Ungebundenheit, Spiritualität und naturnahe Lebensfreude werden zur Wesenhaftigkeit einer ganzen Gruppe erhoben und rassistische Stereotype verfestigen die Denkweise, Sinti und Roma stünden einer "zivilisierten" Mehrheitsgesellschaft gegenüber.

Überlagerung des Hasses: Antiziganismus, Antisemitismus und Hetze gegen Geflüchtete

Dass Migrantinnen und Migranten gezielt nach Deutschland kämen, um den Sozialstaat auszunutzen, ist ein weit verbreitetes, rechtsextremes Narrativ und vor allem seit 2015 zentral für rechtsextreme Onlinepropaganda. Während zuvorderst Hass auf Geflüchtete geschürt werden soll, werden auch Sinti und Roma hier häufig genannt und pauschal mit Geflüchteten zusammengefasst, gleich, ob sie tatsächlich erst in jüngerer Vergangenheit nach Deutschland gekommen sind oder nicht. Insbesondere werden jedoch ost- und südosteuropäische Roma als Belastung und Problem für die Gesellschaft konstruiert. Fluchtgründe wie struktureller Rassismus und Diskriminierung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens werden ebenso geleugnet wie die gewaltvolle Verfolgung.

In der Bezugnahme auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, der hunderttausende Sinti und Roma zum Opfer fielen, zeigen sich Parallelen zum Antisemitismus online. So fanden sich sowohl Anspielungen auf den Holocaust als auch Leugnungen dessen. Die grundlegende Konstruktion ist jedoch eine andere: Während "Jüdinnen und Juden" als einflussreich, wohlhabend und intelligent imaginiert und deshalb als Bedrohung gezeichnet werden, beruht das antiziganistische Narrativ darauf, Sinti und Roma als „nutzlos“ und "unzivilisiert" abzuwerten. Ihnen wird jegliche Kompetenz abgesprochen, mit der Mehrheitsgesellschaft zusammenleben zu können, wodurch sie gleichsam entmenschlicht werden.

Massive Verstöße: Antiziganismus auch ein Jugendschutzproblem

Im Rahmen der Recherche wurden mehr als 400 jugendschutzrechtliche und oft auch strafbare Verstöße wie Volksverhetzungen und Aufrufe zu Gewalt dokumentiert. Die Bandbreite reichte vom Einzelverstoß wie ein unzulässiger Post auf VK bis hin zu 30 und mehr Verstößen auf einem einzigen Angebot, beispielsweise einem YouTube-Kanal. Insbesondere in Kommentarbereichen fand sich ein Großteil antiziganistischer Hetze. Dabei sind nicht nur rechtsextreme Angebote hervorzuheben, die gezielt Hasspropaganda verbreiten.

Das Gros der gefundenen Verstöße wurde in den Social-Media-Auftritten traditioneller Medien registriert, so etwa in den Kommentarspalten der YouTube-Kanäle von Spiegel TV und RT Deutsch. Allein auf YouTube fanden sich über 70 % der Verstöße. Insgesamt leitete jugendschutz.net über 70 Maßnahmen ein. Bisher konnte in lediglich 18 % der Fälle eine Löschung erreicht werden. Gegen zwei Angebote mit einer Vielzahl von Verstößen und deutscher Betreiberverantwortlichkeit wurden medienrechtliche Schritte eingeleitet.

Hasskommentare und hohe Dynamik antiziganistischer Hetze

Auffällig ist, dass sich antiziganistische Hasskommentare ungewöhnlich schnell und häufig nach dem gleichen Schema wechselseitig hochschaukeln. Ein Beispiel: In den Kommentaren zu einer Spiegel TV-Reportage mit über 500.000 Views über obdachlose und als Roma bezeichnete Hausbesetzer auf Mallorca wird ein "hartes" Durchgreifen des Staates gefordert. Auch die rassistische Bezeichnung "Zigeuner" wird in die Debatte eingebracht. Infolgedessen schaukelt sich die Diskussion hoch, in dem zunächst vorgeschlagen wird, die Besitzer des besetzten Hauses könnten "kriminelle Schläger" für die Räumung engagieren. Daraufhin melden sich einige User freiwillig und verweisen auf entsprechende Fähigkeiten und das Vorhandensein diverser Waffen. Die Diskussion eskaliert schließlich derart, dass offen Tötungsphantasien ausgetauscht und dezidiert beschrieben werden. Besonders drastische Kommentare erzielen viele Likes. 

Ein Schwerpunkt der Recherche richtete sich daher auch auf Kommentarverläufe unter YouTube-Videos, da sich dort die beschriebene Hassspirale eindringlich und deutlich zeigt. Besonders unter einer Reihe reichweitenstarker Videos der YouTube-Kanäle von Spiegel TV und RT Deutsch war der Mangel an Moderation der Kommentare eklatant. Hier wurden in großer Anzahl volksverhetzende Äußerungen getätigt, die größtenteils unwidersprochen stehen geblieben sind. Antiziganistische Hetze erscheint so als mehrheitsfähig und besonders junge Userinnen und User können von einem solchen Normalisierungseffekt beeinflusst werden. Dies ist vor allem auch deswegen relevant, weil es sich bei YouTube um die laut JIM-Studie  beliebteste Plattform unter Jugendlichen handelt. So ist es sehr wahrscheinlich, dass insbesondere auch junge Userinnen und User auf antiziganistische Hasskommentare stoßen.

Rechtsextremes Feindbild modern verpackt

Auch eindeutig rechtsextreme Angebote verbreiten gezielt Hass auf Sinti und Roma. Seitens jugendschutz.net wurden knapp 100 solcher Angebote gesichtet. Besonders hervorzuheben ist hier der durch neonazistische Musik verbreitete Antiziganismus. Dieser vermag es, in besonderer Weise zu emotionalisieren, Hass zu schüren und nicht zuletzt an jugendliche Hörgewohnheiten anzuknüpfen. 

Ein Beispiel ist das Lied „Zigeunerpack“ der neonazistischen Band „Landser“, welche Kultstatus innerhalb der rechtsextremen Szene genießt und als kriminelle Vereinigung verboten wurde. In dem Liedtext werden Sinti und Roma böswillig verächtlich gemacht und es wird unverhohlen zu Gewalt gegen sie aufgerufen. Zudem wird diese Gewalt als "Notwehr" gegen die vermeintliche Vernichtung Deutschlands umgedeutet. Wie auch antiziganistische Songs weiterer Rechtsrock-Bands, ist das Lied leicht im Netz zu finden und wird über verschiedene Kanäle verbreitet. Besonders auf der Plattform VK findet sich eine Vielzahl solcher jugendaffiner Inhalte.

Auch rechtsextreme Blogs setzen gezielt antiziganistische Propaganda ein, häufig gepaart mit manipulierten Stories oder "Fake News". Hier werden teils schockierende Bilder, die jedoch aus ganz anderen Kontexten oder Ländern stammen, mit Sinti und Roma in Verbindung gebracht. Themen wie Tierquälerei und sexualisierte Gewalt werden besonders häufig aufgegriffen. Rechtsextreme zielen dabei auf die Emotionen der Userinnen und User. 

Rahmung und Kontext: Rechtsextreme schüren gezielt Hass

Ein wesentlicher Faktor, der sich auf die Art und Weise der Kommentierung auswirkt, ist die Rahmung, welche einem Artikel oder einem Video mithilfe der Überschrift oder eines einleitenden Textes gegeben wird. Dabei fungiert der Begriff "Zigeuner" als Katalysator für antiziganistische Hassrede. Wird der Begriff beispielsweise in der Überschrift eines Videos verwendet, das ohne weiteren Kontext einen Diebstahl zeigt, fallen die Kommentare deutlich drastischer und enthemmter aus. In den Kommentaren fanden sich viele schwerwiegende Verstöße:  
Es wurden offen Tötungsphantasien ausgetauscht und der Holocaust glorifiziert. In den Kommentaren eines von YouTube vorgeschlagenen Videos mit vergleichbarem Inhalt, jedoch ohne entsprechender ethnischer Zuschreibung, wird hingegen die Geschicklichkeit und Routine des vermeintlichen Diebes positiv und anerkennend kommentiert.

Auch Artikel und Videos, die selbst recht differenziert und ausgewogen sind, werden von Rechtsextremen zur Hetze missbraucht. Mit einer anderen Überschrift, einem neuen Bild oder mit einer abweichenden Beschreibung wird dem Inhalt eine Rahmung gegeben, die Userinnen und User zu antiziganistischen Hasskommentaren animiert. Meldungen, in denen beispielsweise von "Bulgaren" oder "Rumänen" die Rede ist, greifen Rechtsextreme auf und bringen sie in Verbindung zu Sinti und Roma. So werden selbst Medieninhalte ohne einschlägige Tendenz zur Hetze missbraucht, indem diese in ein antiziganistisches Narrativ eingebunden werden. 

Antiziganismus im Netz erkennen und entgegentreten

Während andere Ungleichwertigkeitsideologien auch in ihren Ausprägungen online eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren, ist Antiziganismus nur selten Thema. Es mangelt an der gesellschaftlichen Sensibilisierung für antiziganistische Hassinhalte: Viele Stereotype werden unhinterfragt reproduziert, und viele falsche Behauptungen erfahren breite Zustimmung. Aber auch Plattform- und Seitenbetreibern mangelt es augenscheinlich an der notwendigen Sensibilität im Kontext antiziganistischer Hasskommentare. Notwendig ist daher, die Support-Teams in Bezug auf antiziganistische Hassinhalte zu schulen und auch proaktiv gegen verstoßende und strafbare Inhalte vorzugehen.

Herkömmliche Medienanbieter, die ihre Produkte auch über Social-Media-Dienste verbreiten, müssen eine stärkere Verantwortung für ihre Kommentarspalten übernehmen. Die Recherche zeigte, dass die Kommentarbereiche auch nicht verstoßender oder gar ausgewogener Inhalte einen Raum zur Verbreitung antiziganistischer Hetze darstellen. Eine geeignete Moderation ist hier unabdingbar: Unzulässige Hassrede zu löschen und die Einhaltung der jeweiligen Community-Richtlinien und der Netiquette durchzusetzen, ist notwendig.

Zwar wurden im Rahmen der Recherche auch 36 Fälle dokumentiert, in denen Gegenrede geleistet wurde. Unter den zwanzig meistgeteilten Tweets mit dem Hashtag "#Zigeuner" befinden sich bei-spielsweise vor allem Beiträge, die sich kritisch mit Antiziganismus auseinandersetzen. Jedoch verdeutlicht die häufige Nutzung des Hashtags mit über 57.500 Tweets eine insgesamt mangelnde Sensibilisierung und Reflexion rassistischen Sprachgebrauchs. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Hetze meist unwidersprochen bleibt. Um nachhaltig und gesamtgesellschaftlich Antiziganismus zu bekämpfen, muss die Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteure, die in diesem Themenfeld wichtige Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten, gestärkt werden. 

Nicht zuletzt ist es notwendig, medienpädagogische Handlungsstrategien zu entwickeln, die gezielt die in der Gesellschaft vorhandenen Vorurteile aufgreifen und für Antiziganismus sensibilisieren. So kann, in Verbindung mit Konzepten, welche jungen Userinnen und Usern zur kritischen Reflexion und selbstbestimmten Agieren im Netz befähigen, schließlich die Voraussetzung geschaffen werden, sich mit von Rassismus Betroffenen auch online zu solidarisieren und digitale Zivilcourage gegen Anti-ziganismus zu zeigen.